...when you`re gonna love you as much as I do?
Das ist eine Zeile aus einem Song von Tori Amos, und ich weiß nicht mehr, wie oft ich den im Kopf hatte, wenn ich neben meinem Mann lag, ihn anschaute und mich genau das fragte: Warum verachtest du dich selbst so, warum tust du dir immer und immer wieder Dinge an, die man niemandem antun sollte?
Seit Montag ist mir die volle Tragweite eines weiteren Selbstzerstörungstrips meines Mannes klar geworden, als ich nämlich von unserem gemeinsamen Konto etwas überweisen wollte.
100 Euro Abbuchung, am selben Tag noch mal 100, dann 150. Einen Tag vorher: 500. 250. Noch mal 500. Ich habe gescrollt und gescrollt, kein Ende in Sicht. Ein paar Eingänge, 2000 Euro hier, noch mal so viel ein paar Tage vorher, aber bei Weitem nicht so viele wie Ausgänge. Insgesamt, nach meiner ersten Überschlagsrechnung, über 12.000 Euro, dann noch mal über 4.000 Euro Kreditkartenabrechnung. 11.000 Euro Eingang vor zwei, drei Wochen.
Ich erinnere mich: Das war der Tag, an dem er mir sagte: Ich weiß, wie die Maschinen funktionieren. Ich kenn die Algorithmen. Die 15.000, die ich vorher verspielt habe, die wollte ich zurückhaben. Es ist nicht das ganze Geld wieder da, aber jetzt ist alles wieder gut.
Ich erinnere mich, noch einmal drei Tage vorher: Wir gehen spazieren, setzen uns auf eine Parkbank, er möchte mir etwas sagen, was ihm sichtlich schwerfällt, schafft es nicht, drückt mir schließlich sein Handy in die Hand, am Display ist sein Blog zu sehen, den er im Rahmen seiner Therapie begonnen hat. Drin steht: Er spiele wieder. Habe hohe Summen gesetzt, natürlich alles verloren. Es steht was von Scham und Schuldgefühlen drin, von Verzweiflung und der Unfähigkeit, mir, seiner Frau, alles zu erzählen.
Wieder drei Tage vorher: Es ist Wochenende, wir haben eine Unternehmung vereinbart. Sie findet nicht statt, er ist müde, er kann nicht, alles nicht zum ersten Mal. Ich sage ihm, dass wir uns verlieren, dass die Distanz zu groß wird ? er meint, nein, er käme schon wieder auf mich zu, er brauche nur Zeit. Ich sehe den Schock in seinem Gesicht, als ich ihm sage: Ja, das mag schon sein. Aber ich komme dann vielleicht nicht mehr raus aus der Distanz.
Das halbe Jahr vorher: Ein Wechselbad aus Distanz und Nähe, Rückzug, Schlaflosigkeit, Überarbeitung und Flucht in Essen, PC-Spiele, Sprachlosigkeit.
Und jetzt, seit Montag, seit ich die Zahlen rot auf weiß am Konto gesehen habe, der völlige Ausnahmezustand.
Wir kennen uns schon lange, er hat mir vor Jahren erzählt, dass er gespielt habe, hohe Summen verloren. Damals waren wir noch kein Paar, ich weiß nicht mehr, was ich gedacht habe, als er mir das erzählte ? rückblickend habe ich es scheinbar nicht so ernst genommen. Heute denke ich: Wie auch? Wenn er es mir damals so beiläufig, so distanziert erzählt hat wie jetzt zwei, drei Freunden ? wie hätte ich das auch anders auffassen sollen als eine Lappalie, einen Ausrutscher, und im Übrigen: Längst erledigt und vergessen?
Seit zwei Jahren sind wir verheiratet, haben ein gemeinsames Konto und gemeinsam einen Kredit aufgenommen, wir haben ein Haus gekauft. Bis Montag dachte ich noch, alles ist gut, sogar die Beichte auf der Parkbank hat mich noch nicht umgerissen ? ja, das Geld ist weg, aber mit der Pufferzone, die wir haben, und mit all der Liebe zwischen uns ? das geht sich alles noch aus. Die 11.000 Euro Gewinn ein paar Tage später, die haben mich dann hellhöriger werden lassen ? wie kann man, wenn man so viel verloren hat, das nicht vorhandene Geld wieder setzen?
Und der Blick aufs Konto hat mir schließlich endgültig die Augen geöffnet ? gar nicht einmal so sehr über ihn, sondern über mich.
Wie kann ich, eine intelligente, erwachsene Frau, nur so naiv sein? Noch dazu, wo ich im Sozialbereich arbeite, täglich mit Menschen in Ausnahmesituationen zu tun habe, Begriffe wie Co-Abhängigkeit, Suchtdruck und was weiß ich noch alles keine Fremdwörter für mich sind.
Drei Tage später, nach viel Lesen im Forum, nach Gesprächen mit Freunden (denen er sich anvertraut hat ? teilweise vor mir), und vor allem nach Gesprächen ? oder Gesprächsfragmenten ? mit meinem Mann, nach einer Fast-Eskalation heute Nachmittag, als es vorbei war mit meiner selbstauferlegten ?Ich bin so reflektiert und im Notfallmodus? ? Scheiße, jetzt sitze ich hier und schreibe euch, was passiert ist und wie ich mich fühle. Das zu tun, kostet mich große Überwindung ? ich bin sonst in keinen Foren, keinen Social-Media-Plattformen, unterwegs, und ich fühle mich grade, als ob das Präsentieren der ganzen Geschichte diese noch trivialer und elender macht, als sie sowieso schon ist.
Denn das Schlimmste an der Sache ist nicht das Geld, auch nicht der Vertrauensverlust. Das Schlimmste ist für mich, dass ich grad die einzige von uns Beiden bin, die so etwas wie einen realistischen Blick für die Sache hat.
Denn: Ich habe das Gefühl, er denkt, mit dem Erzählen dessen, was geschehen ist, wäre es getan. Er macht seit einem halben Jahr eine (Online)-Therapie, hat aber in dieser Zeit immer gespielt ? obwohl er die Beratung dezidiert wegen seines Rückfalls begonnen hat.
Er sagt, er möchte mit mir reden, mir erklären, was los ist, aber erst, wenn er sich sortiert hat. Er sortiert sich im Blog, den er mir zwischendurch immer wieder angeboten hat, zu lesen ? den aktuellen Eintrag aber nicht. Dass ich das möchte, empfindet er als übergriffig.
Er hat mir am Montag seine Bank- und Kreditkarte übergeben und sich für das gemeinsame Konto sperren lassen ? das ging von ihm aus, und ich war so perplex, dass ich es erst einmal hingenommen habe, ohne mit ihm auszumachen, für wie lange das so sein soll, welche Notfallszenarien eingebaut werden müssten.
Die Gespräche drehen sich im Kreis, sind doppeldeutig: Er schämt sich und hat Schuldgefühle, gleichzeitig sagt er, ich würde mich viel zu sehr in die Materie einlesen, eindenken und einfühlen, alles würde gut werden.
Ich habe ihm gesagt, ich brauche Hilfe und Beratung für mich und habe mit einer Therapeutin einer SHG telefoniert, die mir angeboten hat, mit meinem Mann gemeinsam an einem Wochenende zum Gespräch zu kommen, ich solle mich bei ihr melden, ob er das auch wolle.
Als ich ihm das mitgeteilt habe, war die Antwort, er müsse sich das überlegen, er könne jetzt noch nicht darüber reden, schon gar nichts entscheiden. Ich wollte ein Zeitfenster, bis wann er es mir sagen kann, und er nannte mir den 30. Juli. Ich habe nachgefragt, weil ich es für einen (sehr schlechten) Scherz gehalten habe ? aber es war kein Scherz.
Daraufhin war meine Selbstbeherrschung vorbei, meine ach-so-tolle Selbstreflektion und die Meta-Ebene, und ich habe ihn angeschrien, dass MICH ja auch keiner gefragt hat, ob ich von jetzt auf gleich alles, was ich für die Realität gehalten habe, gegen das, was ich jetzt habe, eintauschen möchte..? Ich hatte keine Vorlaufzeit, keine Auswahlmöglichkeit.
Ich glaube, in dem Moment habe ich verstanden, dass er die Realität weiterhin nicht sieht. Er hat unglaubliche Schuld- und Schamgefühle, er sagt, er versteht, dass er mich in eine Situation gebracht hat, in die er mich nicht hätte bringen dürfen, aber: ich würde mich zu sehr ins Thema reinsteigern. Es würde ihn so verletzen, wenn ich über den Vertrauensverlust, den ich durchlebe, rede. Dass er es schwer aushalten würde, wenn ich so distanziert, im ?Arbeitsmodus? bin ? für mich momentan die einzige Möglichkeit, bei mir zu bleiben, mich nicht zu verlieren, nicht den Verstand zu verlieren.
All die Nächte, in denen er am Sofa oder im Büro allein online gezockt hat, ich oben im Schlafzimmer. Wo war da sein Vertrauen in mich, dass er zu mir gehen kann, mich aufwecken, mir sagen: Hilf mir, der Suchtdruck ist zu groß, ich spiele? Das ist das Schlimmste für mich, die Vorstellung dieser einsamen Zeit, allein vor dem PC, allein in irgendeinem Online-Casino.
Und dann das Lesen im Forum, die Schonungslosigkeit, mit der mir hier vor Augen geführt wird, welche Lügen, welche Geheimnisse, welche Ungeheuerlichkeiten die Begleiterscheinungen von Spielsucht sind. Die Parallelen, das Buchführen über die Gewinne und Verluste, die Verleugnung, die Bagatellisierungen, die Versprechen und Ausreden, mit denen die Angehörigen hingehalten werden. Das Zuschieben von Verantwortung an alle, nur nicht den Spieler selbst. Die vielen Zeilen von Schuld, Scham, Verzweiflung, von Geheimnissen und Tabus.
Heute ein Gespräch mit einem Freund, der mit einem spielsüchtigen Vater aufgewachsen ist und später im Casino gearbeitet hat. Die Geschichten, wie er mit der Brieftasche unter dem Kopfpolster schlafen gegangen ist, damit er nicht an sein Geld kommt, und wie die Brieftasche in der Früh trotzdem leer war. Die Lügen, die der Vater immer und immer wieder erzählt hat, um an Geld zu kommen. Die Geschichten von Frauen, die in sein Casino kamen und ihn angefleht haben, ihren Mann das nächste Mal, wenn er zu den Automaten geht, rauszuwerfen.
Nein, wir sind nicht am Rande des Ruins, und nein, ich habe noch keine jahrelange Leidensgeschichte aus Lügen und Hinhalten hinter mir ? es sind gerade einmal drei Tage. Aber alle Zeichen stehen auf Alarm, und ich, die es gewohnt bin, die Ärmel hochzukrempeln und mir im Bedarfsfall Hilfe zu suchen, Öffentlichkeit herzustellen, ich sitze hier in der Nacht am Küchentisch und schreibe einen Roman über mich, in dem Gefühl, über eine Fremde zu schreiben.
Meine einzige Chance ist, bei mir zu bleiben, mich zu sortieren, nicht Teil des Wahnsinns zu werden und vor allem mir nicht meine Wahrnehmung verschleiern zu lassen.
Und ich habe mit keinem Wort bisher über all das geschrieben, was meinen Mann eigentlich ausmacht, was ihn so liebenswert macht, was ihn so einzigartig macht. Ich mache ihm keinen Vorwurf über das, was er getan hat, ich akzeptiere, dass die Sucht ein Teil von ihm ist, und ich respektiere, achte und liebe all das, was er abseits dieser Sucht ist. Aber sein süchtiges Verhalten jetzt, nachdem er mir alles erzählt hat, zu unterstützen, käme Wahnsinn gleich. Und dass ich die Sucht als einen Teil von ihm akzeptiere, ist ein Anfang, aber mehr nicht: Er muss die Sucht auch sehen, entsprechend handeln, die Verantwortung übernehmen.
Ihr Lieben, die ihr den Roman bisher durchgehalten habt: Danke fürs Lesen. Es hat gutgetan, sich das Gröbste von der Seele zu schreiben.
Eure Jules