Guten Tag allerseits,
Wir haben am Freitag Besuch bekommen. Eine Freundin meiner Schwägerin. Sowas streßt mich immer, also wenn jemand hier ist, auch wenn ich sie eigentlich mag, ein angenehmer Mensch.
Ich bin ihr das erste Mal vor ein paar Jahren auf einem Festival begegnet, solche Großereignisse sind für mich nicht leicht zu überstehen, aber mit ihr hatte ich zumindest nie das Gefühl, nicht zu wissen, was ich sagen soll. Sowas ist selten. Sie hat von sich aus geredet, ohne daß es aufgesetzt wirkte, ohne daß ich das Gefühl hatte, sie würde irgendwas von mir 'erwarten'. Manchmal hat sie andere schon gefragt, warum ich zwischendurch ständig einfach 'weg' bin, aber man sagte ihr, daß das eben so sei, nichts los sei, keiner mich suchen gehen muß, und für sie war das dann okay.
Wir sehen uns aber eher selten, sie wohnt weiter weg. Sie baut grad ein Haus in einer ländlichen Gegend, und hat momentan ein wenig zu kämpfen, weil ihr Mann beruflich im Ausland ist, seit Ende Februar wegen Corona dort nicht ausreisen darf, und somit gerade alles an ihr hängt. Das belastet auch die Beziehung. Sie ist genervt, weil sie sich um alles kümmern muß, und er, weil er das gerne würde, aber nicht kann. Das verstehe ich ganz gut.
Wir saßen dann abends auf dem Balkon, und meine bessere Hälfte meinte "Nimm doch TAL mit, wenn du Hilfe brauchst. Der mag sowas gerne. Da hätte ich dann mal ein paar Tage meine Ruhe. Win-Win."
Ich fragte mich, was das soll. Nicht das Loswerden, den Witz hatte ich verstanden, sondern mich einfach mal 'auszuleihen', ohne mich zu fragen. Hallo? Ich stehe hier neben dir.
Sie sagte "Na, das nenne ich mal Harmonie. Ich mag euch, ihr seid entspannt. Aber glaubt mir, wenn es bei euch so wäre, wie bei uns, ihr würdet euch auch vermissen."
Ich "Ja, wahrscheinlich hast du recht. Ungewöhnliche Situationen, so wie im Moment, sind auf Dauer nie schön. So oder so."
"Ich hab genug davon. Aber he. Setz dich doch mal hier neben mich auf die Bank. Es macht mich irgendwie kirre, wenn du da stehst."
Ich setzte mich stattdessen auf den einzigen freien, kaputten Stuhl... zum zweiten Mal an diesem Abend.
"Ist irgendwas mit mir? Ich habe geduscht."
"Nein. Alles gut."
Meine Schwägerin sagte dann "Das darfst du nicht persönlich nehmen. Ist es nicht. Wirklich nicht. Es liegt nicht an dir, das ist bei allen so. Ich mußte mich auch erst dran gewöhnen. Ich wußte die ersten zwei Wochen, nachdem sie zusammenkamen, nichtmal, ob TAL überhaupt sprechen kann."
"Ah. Okay. Muß man ja nur wissen. Aber wie geht man damit um? Gibt man die Hand zur Begrüßung?"
"Ja, zum Beispiel. Vermeide einfach Nähe, das reicht. Wenn du es mal vergißt, ist auch nicht schlimm, du wirst es aber dann eben merken. Einfach immer im Hinterkopf behalten, daß das normal ist. Alles gut. Der einzige, der das ignoriert, ist meine Mutter. Sie drückt und umarmt TAL trotzdem."
"Oh. Ist das schlimm?"
"Nein. Da sie da auch keine Reaktion erwartet, läßt TAL das inzwischen einfach über sich ergehen. Sieht immer nur komisch aus."
"Das ist sicher nicht leicht. Sowas verbaut einem bestimmt auch vieles im Leben."
Das war das erste Mal, daß jemand direkt gefragt hat, und ich war verwundert über die Reaktion meiner Schwägerin, und auch die ihrer Freundin.
Das war definitiv keine angenehme Unterhaltung, sie wäre aber durchaus unangenehmer geworden, hätte ich es ihr erklären müssen. Ich hätte nicht gewußt, was ich sagen soll. Dabei war die (anscheinend allen bekannte) Tatsache, daß es nunmal so ist, völlig ausreichend.
Von dem Punkt an war es nicht mehr ganz so schwer, die Fragen zu beantworten, wie es für mich in der Schule war (meine Nichte wurde gestern eingeschult), oder wie ich mit bestimmten Alltagssituationen umgehe. Nicht detailliert, aber zu sagen "Ja, manchmal stehe ich mir da selbst im Weg."
Es gab kein "Verstehe ich nicht." oder "Mach doch einfach dies und das.", sondern nur ein nachdenklicher Blick, und die Aussage, daß 'sowas' sicher irgendwie belastend sein muß.
Oh nein. Ich weiß das ja, und stelle mich darauf ein. Ich kenne es ja nicht anders.
Ich lag dann später im Bett, während die da unten auf meinem Sofa schliefen, neben mir schnarchte jemand friedlich. Die ganze Zeit fragte ich mich, was das heute war... ob ich das nicht hätte verhindern können. Mußte meine Schwägerin, während ich danebensaß, über mich reden wie ein Hundebesitzer "Der macht manchmal komische Sachen, ist aber ein ganz Lieber." Wie das nun bitte 'wirkt'. Andererseits war es sachlich und vollkommen zutreffend, besser, als wenn ich es selbst versucht hätte. Ich wollte plötzlich eine rauchen, aber konnte nicht auf den Balkon. Dann wollte ich vor die Tür gehen, aber das hätte am Ende noch einer gehört und Fragen gestellt.
Irgendwann bin ich dann doch eingeschlafen.
Am nächsten Tag waren wir auf einer Gartenfeier. Prinzipiell ging das einigermaßen. Ich kenne die Leute schon ewig. Früher gab es Dosenbier, heute haben sie Häuser, kleine Kinder, und es gibt Veggieburger vom Luxusgrill.
Naja. Irgendwann wurde aber auch das seltsam. Ich bin nämlich nicht der Einzige, der da nicht den direkten Weg genommen hat. Jemand anders ist gerade dabei, zurück in die Spur zu finden. Nennen wir es mal eine 'steile Karriere', wenn auch in einem anderen Bereich.
Bei ihm kam allerdings irgendwann der Punkt, an dem er die Konsequenzen nicht mehr verheimlichen konnte. Jeder weiß es.
Er arbeitet bei einem Bekannten, der um seine Vergangenheit weiß, und mehrere Wohnungen und Häuser besitzt, in der Firma als Handwerker und Hausmeister. Nebenbei macht er oft Heimwerkerarbeiten im Bekanntenkreis.
An diesem Abend war er nicht da. Jemand fragte, wo er sei. Ein anderer meinte, er sei wahrscheinlich zu Hause eingeschlafen.
Die Frau des Bekannten, bei dem er angestellt ist, setzte daraufhin zu einer regelrechten Tirade an. Das Thema dabei ironischerweise: Verantwortung.
Die Kurzfassung ist, daß er gekündigt hatte (bzw. sie hatten ihm auf seine Bitte hin gekündigt), um LKW-Fahrer zu werden, da er so ja mehr verdient. Einen Führerschein hat er noch aus seiner Zeit bei der Freiwilligen Feuerwehr. Der Amtsarzt hat ihn in einem psychologischen Gutachten die Tauglichkeit bescheinigt, er hat die Eignungstests absolviert, um wieder fahren zu dürfen. Nun sucht er einen Job.
So weit, so normal.
Nein. Jetzt ging es los.
Sie wurde regelrecht wütend darüber. Das sei unverantwortlich, jemanden wie ihn einen LKW fahren zu lassen. Er sei nicht 'stabil'. Ob 'die' das denn nicht raffen würden. Was da alles passieren könne, er kann ja nichtmal auf sich selbst und seinen Körper achten. Letztens erst sei er fast von der Leiter gefallen, weil er nicht regelmäßig ißt. Seit ein paar Wochen hat er nun auch ein Auto, das ihm sein Onkel geschenkt hatte, schon das ginge ja eigentlich zu weit. Eine Gefahr für sich und andere. Wie könne man sowas Verantwortungsloses (sie benutzte dieses Wort recht inflationär, als ob es ihren Standpunkt besonders untermauern würde) machen?
Sie hoffe inständig, das ihm niemand eine Chance gibt, und sei es nur aufgrund seiner Vergangenheit. Das ginge nämlich absolut gar nicht!
Ich habe nichts gesagt, es geht mich nichts an. Aber ich mag diese Art von Bevormundung nicht. Von oben herab, daher fragte ich mich den ganzen Abend, ob sie das Recht hat, so zu urteilen. Sorgte sie sich tatsächlich um das Wohl Dritter, oder ging es um etwas Anderes, was ich nur nicht verstehe? Ich war jedenfalls irritiert, daß sie sich anmaßt, jemandem die Entscheidungsfreiheit abzusprechen, nur weil er manchmal Schwierigkeiten mit sich selbst hat. Gerade sowas ist dann doch eben unheimlich wichtig.
Aber naja... dann dachte ich... ich mag nicht fahren, eben weil ich weiß, daß ich nicht gut darin bin. Bis vor vier Jahren hatten wir nichtmal ein Auto. Ich hasse es, ganz besonders, wenn ich nicht allein im Auto sitze, tue es aber manchmal, wie an diesem Abend auch, weil ich sowieso nicht trinken würde, und meine bessere Hälfte es dann kann. Da sage ich mir dann... alles andere wäre irgendwie... unsinnig, auch wenn ich den ganzen Abend hoffe, daß ich doch nicht fahren muß, und daß ich keinen noch zusätzlich nach Hause bringen soll.
Was aber wäre, wenn ich es beruflich machen wollen würde? Wäre das auch 'verantwortungslos'? Niemand würde mir da derart reinreden, auch wenn die Situation eigentlich kaum anders wäre. Der Unterschied ist eben nur, daß es bei mir keiner weiß. Ist er eine Gefahr für andere?
Ich wohl schon. Ja. Ich würde mir das zumindest selbst nicht zutrauen, und das hat ja seine Gründe...
Und trotzdem ist das meine Entscheidung. Oder seine. Jeder Fahrer trägt Verantwortung. Ein Risiko gibt es bei jedem. Nur weil ich gewisse Dinge nicht so kann wie Andere, heißt das nicht, daß man mich überall bevormunden und für mich denken muß. Ich kann das besser beurteilen als jeder Andere. Ich kann auch besser Sorge für mich tragen als jeder Andere. Für mich selbst ist es deshalb andererseits aber auch sehr wichtig, meine Grenzen zu kennen und einzuhalten. Eben weil sie 'ungewöhnlich' sind - und kein Anderer sie erkennen kann.
Also... unabhängig davon. Richtig oder Falsch. Gibt es das überhaupt? Wenn mir einer sagt, ich mache etwas falsch, tut er das ja nicht ohne Grund. Das kommt ja von irgendwoher.
Ich habe aber meine eigene Wahrheit, meine eigene Logik, ziehe meine eigenen Schlüsse... am Ende wird man sich, wenn überhaupt, sowieso erst 'einig', wenn sich die Erfahrungswerte decken. Der Mensch lernt ja nicht aus Erzählungen oder Vorträgen, sondern durch Ausprobieren. In meinem Fall ist das eher hinderlich, denn ich brauche immer sehr lange zum Lernen. Es dauert, bis etwas wirklich 'sitzt'.
Diesen Weg kann man aber eben nicht immer gehen. Manchmal muß ich eben Nein sagen, ohne es vorher auszuprobieren.
Wäre dies tatsächlich so ein Fall? Ja, für mich schon. Ich würde es schon von mir aus ausschließen.
Aber das gilt ja nicht automatisch für Andere.
Wir sind alle verschieden.
Wenn man sich das zutraut, ist das doch etwas Gutes. Oder nicht?
Sorry für den wirren Schwall. Das bedarf auch keiner Antwort. Dieses Wochenende spukt nur irgendwie in meinem Kopf rum.
Es ist eben, wie es ist.
Wünsche jedenfalls allen einen sonnigen Tag.