Verantwortung...
Die letzte Nacht war kurz.
Gestern Morgen stand ein Osterhase auf meinem Schreibtisch, neben dem, den mir unser Botenfahrer vorgestern geschenkt hatte. Von einer Kollegin. 'Danke'.
Noch einer? Wofür, fragte ich mich verwirrt. Ich denke ja nichtmal an Geburtstage... meinen eigenen inklusive. Es war mir unangenehm, weil ich sowas nie auf dem Zettel habe. Ich krieg sowas nie hin. Das ist wirklich nicht nötig. Nicht bei mir. Oh je...
Kurze Zeit später, als mein Chef nur kurz vorbeikam, dann aber letztlich für vier Stunden blieb, wurde mir klar, wie unglücklich meine Kollegen schon seit langem waren. Wie sehr die letzten Tage, die unsere Teamleitung nicht da war, eine Erholung für alle waren. Das geht so weit, daß man mir einen Osterhasen dafür schenkt, eine Woche lang mal nicht schikaniert worden zu sein.
Als er ging, hatten wir letztlich das, was ich schon länger befürchtet hatte.
Ich bin vorher schon ab und an von ihm gefragt worden "Kämen wir ohne sie klar?"
Das gab jedes Mal energisches Kopfschütteln meinerseits.
So nervig sie ist, ich kann damit umgehen, und ich mag da nicht sitzen. Auf dem Präsentierteller ist schlimmer. Dann lieber ihre anstrengende 'Präsenz'.
Doch nun ist der Fall eingetreten, auf den fünf der sieben Mitglieder unseres Teams anscheinend schon lange hofften. (Im Nachhinein betrachtet überrascht es mich nicht. Ich bin nicht der Einzige, den ihre unmögliche Art nervte. Wieso glaubte ich, es läge an meiner falschen Wahrnehmung, wenn es mir mißfällt, daß sie den ganzen Tag auf anderen rumhacken muß, um sich selbst besser zu fühlen?) Es ist nicht das erste Mal, daß ich aus einer Not heraus in einer chaotischen, unmöglichen Situation eine Position 'erbe', die ich niemals wollte - weil alle anderen es für die beste Lösung halten. Etwas, das ich nicht möchte, und dem ich auch nicht gewachsen bin.
Ich tue es, weil es gerade kein anderer machen kann - und am Ende wird aus der Notlösung Routine.
Damals... die umsatzstärkste Filiale der Region wurde von einem pathologischen Spieler geleitet, der nichts lieber wollte, als diesen 15cm langen Schlüssel für die Stahltür im nächsten Bach zu versenken, und einfach nur stupide Konservendosen in die Regale stellen, weil er schon nicht wußte, wohin mit der eigenen Bankkarte...
Mein Kollege wurde länger krank, ein anderer kündigte und kam nicht mehr.
Ich kann das, so sagte man. In der Urlaubszeit hatte ich es doch auch gemacht. Bestellungen, Papierkram... irgendwer mußte es ja tun. Kasse und Tagesabschluß... die Abrechnung stimmte immer, auf den Cent.
Natürlich tat sie das... ich weiß doch, was man 'sieht'... und was nicht!
Das kann also nicht wirklich euer Ernst sein!
Wer denkt sich sowas aus? Ich bin der Letzte, der sowas machen sollte. Sieht das denn keiner?
Schaut woanders hin.
Ich will nicht!
Ich habe mich schon öfter darüber geärgert, wie sie mit anderen umging. Daß das nicht an meiner verschrobenen Wahrnehmung und meinem persönlichen, fast schon krampfhaften, Bedürfnis nach Ruhe lag, sondern es jedem anderen auch so ging, kam mir nie in den Sinn.
Gestern kam mein Chef (er hat sein Büro woanders, wir sehen ihn normal nicht allzu oft), wir waren aufgrund der Corona-Maßnahmen nur zu dritt, sie war nicht da. Eigentlich ging es darum, daß die Firma Kurzarbeitergeld beantragt hat, unter anderem für unsere Abteilung. Das wurde schnell zur Nebensache. Erst platzte einer mit seinen Sorgen heraus, dann der nächste. Ihre hinterfotzige Art. 'Nach mir die Sintflut'. Ich sagte nichts.
Mein Chef war sichtlich schockiert über diese Berichte. Er wußte, sie war nicht ohne... aber das...
Dann ging es um Betrug bei der Stundenabrechnung. Eine Anspielung. Allgemein gehalten. Keine Namen. Alles wartete. Auf mich.
Was sollte ich tun? Die beiden erwarteten, nein, das ist das falsche Wort, sie
hofften, ich würde etwas sagen. Keiner der beiden wollte das tun, wenn ich dem nicht zustimme. Es war meine Sache, ich hatte in der Vergangenheit schon darum gebeten, es nicht zu melden. Sonst wäre sie schon längst raus. Einfach war das damals nicht. Besonders meine eine Kollegin war sehr wütend deswegen. Sie verstand es nicht. Sie verstand nicht, warum ich das 'mit mir machen ließ'. Ich konnte sie nur mit Mühe davon abbringen, sich zu beschweren. Weia. Warum? Es geht doch nur um mich.
Aber wer bin ich, daß ich jemanden in die Pfanne haue?
Ich bin der Letzte, der das tun sollte. Es ist lange her... aber ich habe es ja nunmal selbst getan. Ich wurde nur nie erwischt... oder eben verpfiffen. Dagegen waren das hier Peanuts. Ich habe sowas später auch schon öfter mitbekommen - und die Klappe gehalten. Letztlich sind alle auch ohne mein Zutun aufgeflogen. Aber hier war es etwas komplizierter. Der Wunsch meiner Kollegen nach einer dauerhaft streßfreien Atmosphäre, ein für mich sehr gut nachvollziehbares Bedürfnis, hing davon ab, was ich nun sage.
Einundzwanzig, zweiundzwanzig... man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Stille.
Dann sagte er "Ich würde es gerne wissen... was da passiert ist. Denn letztlich geht es um mehr. Ich möchte nicht, daß jemand kündigt, weil er es nicht mehr aushält. Das Gefühl habe ich schon länger hier. Es geht auch darum, daß jemand, der so eine kriminelle Energie aufbringt, auch noch zu anderen Dingen fähig wäre. Sie hat sich das selbst zuzuschreiben. Da ist Loyalität fehl am Platz. Denn wer weiß? Das fällt dann auf alle zurück. Was auch immer Sie drei mir sagen, ich werde es nicht weitergeben. Ihr Vertrag läuft in zwei Monaten aus. Wir würden das ganz einfach nicht verlängern. Da braucht niemand Angst zu haben."
Oje. Nein. Falsch. Ich hatte keine Angst. Es geht immer irgendwie weiter. Aber wie kann man nur so dämlich sein... das muß doch auffallen. Sowas funktioniert doch nur, wenn die Rechnung am Ende trotzdem aufgeht! Innerlich ärgerte ich mich über sie, daß sie mich mit ihrem stümperhaften Mist in diese Lage gebracht hatte. Wenn schon bescheißen, dann bitte richtig, aber sie hielt alle für dumm, und sich für besonders clever. Das sagte sie auch dauernd. Jetzt stand ich mit dem Rücken zur Wand. Ich will das nicht. Ich will einfach nur meine Ruhe.
Na danke.
Mir war schlecht. Ich wollte weglaufen. Ganz weit weg.
Ich mag die beiden Kollegen, sie wollten eigentlich etwas ganz Normales, was ich gut nachvollziehen kann - ein ruhiges Arbeitsklima. Einfach nur wieder zur Arbeit kommen, ohne schikaniert zu werden. Er wollte einen Grund für den Betriebsrat. Win-Win. Für jeden. Außer für mich (und sie natürlich). Wo ist das Problem? Alles, was ich tun mußte, war, zu bestätigen, was eh schon jeder wußte. Zwei Buchstaben. Vergiß es. Das kann ich nicht. Und sie wissen das. Sie wissen nicht, warum, aber sie wissen, daß da von mir wohl nichts kommen wird... und sie respektieren meinen Wunsch nach Diskretion. Also entweder ich oder niemand. Sonst: Chance vertan. In zwei Monaten wäre sie unbefristet. Dann geht das nicht mehr so einfach. Ich komme damit zurecht, ich habe da ein dickes Fell. Andere haben das nicht. Bei ihrer letzten Tirade vor zwei Wochen hat jemand sogar geweint. Was sagte er? Sie hat sich das selbst zuzuschreiben, ich habe ja nichts getan. Ja, das hat sie. Genau wie ich. Aber hier sind Dritte im Spiel. Nicht nur eine Firma, sondern Menschen. Eine davon hat mir schon öfter geholfen, weil sie instinktiv wußte, daß ich es nicht selbst konnte. Nicht auf die aufdringliche Art, wie es andere tun, sondern nebenbei und ohne großes Tara. Hier. Guck mal. Punkt. Ich kann ihr auch helfen. Es ist eigentlich ganz leicht... aber das würde auch heißen, daß ich jemanden reinreiten müßte. Nein. Ich will nicht.
Und die anderen?
Meine Gedanken rasten... und kaum hörbar, durch zusammengebissene Zähne, sagte ich "Ja."
Ungläubiges Kopfschütteln bei meinem Chef. Aufatmen neben mir.
"Sehen Sie. Keiner weiß, warum TAL sie immer gedeckt hat, aber so war es. Ich wäre stinksauer gewesen. Wie kann man da nicht stinksauer sein?"
"Verstehe ich auch nicht. Wie lange ist das her?"
"Ein halbes Jahr? Kam seitdem auch nicht mehr vor. Seit mal jemand eine Anspielung machte. Wirklich. Es ist nie wieder passiert."
"Sie brauchen das nicht verteidigen. Wirklich nicht. Sie haben nichts getan, das war sie selbst."
Jetzt war die Frage nicht mehr, ob, sondern wie es ohne sie geht, denn in Zeiten wie diesen wird kaum jemand Neues eingestellt.
Nun ja. Das war klar. Für alle Anderen war die Lösung sichtbar einfach. Verhaltene Freude. Jeder mag mich, ist immer ruhig und entspannt mit mir. Ich kann's ja machen. Tu ich ja bisher auch, wenn sie nicht da ist.
Stimmt. Und ich hasse es. So sehr sie mich auch nervte... solange sie da war, mußte ich dort nicht sitzen. Ihr ganzes Gehabe ist sinnlos, es war schon immer nicht nur dumm, sondern komplett unnötig, denn niemand will ihr den Job streitig machen.
Ich habe sogar tatsächlich gesagt, daß ich es nicht machen möchte. Aber ich kann es euch zeigen, wenn ihr wollt. Darauf erzählte meine Kollegin, wie es normal dort läuft. Mir hat das nie jemand gezeigt, denn jemand, der Unverzichtbar sein will, gibt nichts weiter. So hat man auch immer 'Dumme', auf die man die Schuld schieben kann, wenn man wieder da ist. "Seht ihr, ihr braucht mich."
Ich wollte nach Hause. So war das doch gar nicht.
Oder doch?
Mein Chef saß daneben. Fassungslos. Während die beiden ihm erzählten, wie jeder von uns hintenrum in den Arsch getreten wird. Der Knoten war geplatzt. Der aufgestaute Frust von zwei Jahren entlud sich bei ihnen. Oh, das war unangenehm. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. "Sie scheißt dich vor Publikum zusammen, etwas nicht erledigt zu haben, was ihr Job gewesen wäre... und du hattest zu der Zeit Urlaub. Zehn Minuten später sagt sie dir allen Ernstes, du mögest ihr doch zeigen, wie das überhaupt geht."
"Naja..."
"Nichts naja. Sie wird dafür bezahlt. Sie kann aber nicht Bitte sagen. Oder Danke. Oder sorry, hab ich vergessen. Oder Ich kann das nicht. Nur "Jetzt" und "Sofort". Sie macht keine Fehler, dazu ist sie viel zu sehr von sich überzeugt. Und das Schlimmste wäre, wenn andere das mitbekämen. Sie ist doch so tough, entspannt und selbstsicher... haha. Es ist so lächerlich... Sie kann nichtmal ihren eigenen PC anschalten... und sie merkt das nichtmal."
"Ja, es ist nicht leicht, sie ernstzunehmen. Aber..."
"Kein Aber. Hör auf, sie zu verteidigen. Du mußt das nicht machen."
Keiner war glücklich über diese Wendung. Erstaunlicherweise hatten auch die anderen ein schlechtes Gewissen dabei, nicht nur ich.
Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Eine Menge Dinge kamen nichtmal zur Sprache. Dies war kein 'Mist abladen.', sondern zwei Personen, die einfach nur ihre Ruhe wollten. Es fiel ihnen nicht leicht... und das Gesagte reichte aus. Mehr brauchte es nicht.
Warum hat nie jemand was gesagt, fragte er. Ganz besonders in meine Richtung. Das sei unglaublich. Er verstehe es nicht. Welche Motivation hätte man, das mit sich machen zu lassen?
Ja. Warum?
Weil ich nicht in der Position bin, über andere zu urteilen.
Weil ich einfach nur in Ruhe vor mich hinarbeiten will.
Weil ich die Verantwortung nicht möchte.
Und weil man auch besser daran täte, sie mir nicht zu überlassen.
Weil ich nicht Nein sagen kann.
Und weil ich anderen nicht sagen mag, was sie tun sollen.
Weil es mir egal ist, was andere machen, solange ich meine Ruhe habe.
Und weil ich es nichtmal verdiene, überhaupt hier zu sein.
Weil ich schlimmer bin als sie, und dieser Zuspruch absolut fehl am Platz ist!
Macht.
Das.
Nicht!
Ich freue mich nicht darauf, wenn Ostern vorbei ist. Die Wochen danach werden unerträglich für meine Kollegen. Es wird erst schlimmer werden, bevor es besser wird. Es gibt nichts Schlimmeres, als offen am Ego und der Unersetzbarkeit unserer Teamchefin zu zweifeln.
Ich habe mir mit der Ehrlichkeit selbst in den Fuß geschossen, jemand anders hat seinen Job verloren, und ich dafür Verantwortung bekommen, die ich nicht will.
Ich tat es nicht meinetwegen, denn mir war die Konsequenz daraus (für mich, und besonders auch für sie) vorher bewußt.
Das war nicht richtig. Ich hätte die Klappe halten sollen. Gewundert hätte es keinen.
Tja... in diesen Zeiten zu kündigen ist auch keine Option, auch wenn es sehr verlockend ist. Warum können mich nicht einfach alle in Ruhe lassen?
Hat jemand was Passendes für mich? Wie Pakete packen oder Eis verkaufen? Das kann ich wenigstens.
Und die Chancen, jemandem zu schaden, wären deutlich geringer.
Sorry für den langen Text, daß ich das hier ablade, aber ich mußte das grad mal irgendwie ordnen, sonst geht es das ganze Wochenende weiter da oben. Das wird es wohl eh, aber naja.
Vielleicht sollte ich meiner besseren Hälfte davon erzählen, aber dann kommt nur "Du bist zu gutmütig, denkst zuviel an andere. Sie interessiert sich eh nur für sich. Wenn sie so toll ist, wird sie schon was finden. Seid doch froh, sie loszusein, diese hinterhältige Kuh. Und dann kannst du auch mehr Geld bekommen."
Also im Prinzip das, was meine Kollegin auch sagt. Steckt euch das Geld an den Hut! Irgendwie ist mein Problem damit schwer zu vermitteln.
Ich versuch's gar nicht erst.
Wünsche euch frohe Ostern.